Das Leben der dankbaren Toten
Long Strange Trip zeichnet ein faszinierendes Porträt der Band Grateful Dead, die in den USA der 80er Jahre beinahe zur Religion avancierte. Lest hier, warum die Dokumentation nicht nur für Kenner interessant ist.
Eines muss ich wohl vorwegnehmen: Ich habe vor Long Strange Trip nie bewusst irgendeinen Song von Grateful Dead gehört, geschweige denn, mich mit der Historie der Band beschäftigt. Trotzdem hat mich Amir Bar-Levs Dokumentation über eine der wichtigsten Musikgruppen des Psychedelic Rock fast vier Stunden lang bestens unterhalten. Grateful Dead war mehr als eine Band. Die Gruppe um Gitarrist Bob Weir, Bassist Phil Lesh und Schlagzeuger Bill Kreutzmann war für viele Anhänger eine Art Ersatzreligion und Frontmann Jerry Garcia war ihr Prophet.

Inhaltlich befasst sich Long Strange Trip typisch chronologisch mit der Entstehungsgeschichte der Band, ihren bescheidenen Anfängen, ersten Touren in Europa und dem großen Durchbruch bis hin zum Stadien sprengenden Massenphänomen. Teilweise unveröffentlichtes Archivmaterial, O-Töne von Bandmitgliedern und Weggefährten, sowie alte Interviewmitschnitte des 1995 verstorbenen Jerry Garcia erfüllen ihren Zweck. Ergänzt wird die ansonsten recht konventionelle Dokumentation durch ein paar kreative Kniffs. So berichtet Garcia gleich zu Beginn von seiner Faszination für Frankensteins Monster, welches ihn in seiner Kindheit tief geprägt hat. Im weiteren Verlauf von Long Strange Trip sorgen kleine Filmausschnitte des Kultmonsters für die nötige Auflockerung. Ebenso bieten psychedelisch angehauchte Intermezzos in Form von animierten Mandalas eine gestalterische Abwechslung und thematisieren zugleich das LSD-lastige Leben der Band.
Life’s about fun
Drogen sind ein wichtiger Aspekt in der Geschichte von Grateful Dead, denn schon in frühen Jahren sorgt die Band für die musikalische Untermalung bei sogenannten Acid-Tests. Dies sind Zusammenkünfte, bei denen sich die Beteiligten zum gemeinsamen LSD-Konsum treffen. Auch wenn es im unmittelbaren Umfeld der Band immer wieder zu Todesfällen durch Drogen kommt, steht der Konsum an sich nie zur Debatte. Long Strange Trip zeigt uns einen Jerry Garcia, der vor allem eins im Leben will: Spaß. Immer, wenn der antiautoritäre Bandleader eine Entscheidung trifft, fällt er sie zugunsten des Spaßfaktors. Ruhm und Ehre sind ihm gleichgültig, langfristige Pläne schmieden ist nicht sein Stil. Er nimmt das Leben wie es kommt und versucht, stets das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen.

Was diese Einstellung anbelangt ist der Vollblut-Musiker absolut konsequent. Die Freiheit, die er für sich selbst in Anspruch nimmt, soll auch für andere gelten. Das Sprengen der gesellschaftlichen Fesseln, wie es Grateful Dead praktiziert, wirkt nahezu magisch auf die Hippie-Bewegung der damaligen Zeit. In der Anfangsphase führt diese Philosophie zur perfekten Harmonie. Konzerte bei denen Menschen geistesverloren ihre Seele baumeln lassen, während vereinzelte Fans nackt und ekstatisch herumwirbeln, liefern einen paradiesischen Eindruck der vollkommenen Freiheit. Doch Regisseur Amir Bar-Lev blickt nicht nur durch die rosarote Brille.
Die Kehrseite der Freiheit
Jerry Garcia ist ein ambivalenter Charakter. Auch wenn Long Strange Trip die anderen Mitglieder etwas vernachlässigt, ist es verständlich, dass der Regisseur den Fokus auf ihren Anführer legt. Der wollte zwar nie die Führungsrolle übernehmen und sieht die Band und deren Anhängerschaft als gleichberechtigtes Kollektiv, doch es führt einfach kein Weg an Garcia vorbei. Er praktiziert den Grundgedanken von Grateful Dead am konsequentesten, was die Dokumentation durchaus kritisch sieht. Als radikaler Feind von Hierarchien wird er selbst zur Autorität, dem Hunderttausende Menschen zu Füßen liegen.

Das funktioniert solange, wie noch alles friedlich vonstattengeht. Doch spätestens als tausende von Menschen ohne Ticket zu den Konzerten strömen und es bereits zu Todesfällen kommt, wird Garcias Haltung fragwürdig. Während die Bandkollegen in öffentlichen Radiobotschaften zum friedlichen Miteinander auffordern, entzieht sich der Freiheitsfanatiker seiner Verantwortung.
Nebst dem musikalischen Aspekt, der in Long Strange Trip ebenfalls seinen Raum findet, offenbart sich die gesellschaftliche Wirkung der Band auf eindrucksvolle Art und Weise. Grateful Dead ist eine Studie des angewandten Anarchismus, mit all seinen Licht- und Schattenseiten.
Die Ironie von Grateful Dead
Was am Ende bleibt, ist ein Leben voller Widersprüche. Jerry Garcia wollte mit Grateful Dead nie eine Gefolgschaft religiösen Ausmaßes gründen. Für ihn sollte die Band einfach nur sein unbändiges Verlangen nach Freiheit stillen. Doch als die Fans zahlreicher wurden, das Unternehmen expandierte und immer mehr Leben vom Bandleader abhingen, war es eben dieses Vehikel der Freiheit, welches ihn ausbremste und sein Leben voll und ganz unter Kontrolle hatte.
Auch wollte Garcia kein statisches Monument für die Ewigkeit errichten, sondern ein dynamisches, unvorhersehbares Leben führen. Doch mit dem Erfolg der Band und dem enormen Einfluss auf die Musikszene, hat er der Welt ein Erbe hinterlassen, welches länger überdauern wird, als so manches monumentale Bauwerk.
Die ironische Pointe Nummer Drei findet sich im makabren Bandnamen wieder. Die Mitglieder von Grateful Dead waren das Gegenteil von tot. Die Band hat das Leben zelebriert und ihre Vision von Freiheit in die Welt getragen, wie kaum eine zweite. Nur wenige haben so intensiv gelebt, wie die dankbaren Toten. Amir Bar-Lev verstrickt die extremen Gegensätze so geschickt, dass ein kohärentes Bild entsteht. Long Strange Trip ist somit nicht nur für Deadheads, sondern auch für Hobbyphilosophen und -soziologen eine sehenswerte Dokumentation.
Bilder: Long Strange Trip © Amazon Studios
Oscar-Chancen:
Auch wenn Long Strange Trip bei Amazon als sechsteilige Doku-Serie präsentiert wird, erfüllt das Künstlerporträt dennoch die Voraussetzungen, um als Dokumentarfilm bei den Oscars mitzuwirken. Sowohl in Los Angeles, als auch in New York liefen die Episoden eine Woche lang als Gesamtwerk im Kino und dürfen damit in der Kategorie Bester Dokumentarfilm antreten. Mit den Grateful Dead hat Amir Bar-Lev eine der populärsten US-Bands des vergangenen Jahrhunderts als Zugpferd für seinen Film. Je nachdem wie viele Dokumentarfilmer in der Academy Fans der Musikgruppe sind, könnte sich das bei den Oscars widerspiegeln. Auch die 100%-Wertung bei Rotten Tomatoes werden sicherlich nicht schaden. Eine Nominierung halte ich deshalb für sehr realistisch, auch einen Sieg möchte ich noch nicht ausschließen.
Was haltet ihr von Long Strange Trip?