Selten habe ich im Kino so viele Tränen verdrückt wie bei Wunder. Lest hier, warum mir die Romanadaption so nahe geht und welche Chancen der Film bei den Oscars hat.
Wunder ist der Film der feuchten Augen. Ob auf oder vor der Leinwand, als aktiver Schauspieler oder passiver Zuschauer. Jede Person im Umfeld dieser herzergreifenden Ode an das Anderssein ist permanent den Tränen nahe, ich eingeschlossen. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen namens August Pullman. Von Geburt an enstellt, versteckt sich Auggie die meiste Zeit unter einem Astronautenhelm, um sein Gesicht vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die ersten vier Schuljahre verbringt er zuhause im Heimunterricht. Doch als er in die fünfte Klasse kommt, wird es Zeit für ihn, sich seinen Altersgenossen zu stellen. Immer wieder stößt er mit seinem ungewöhnlichen Äußeren auf Spott, Ekel und Verachtung. Dabei verbirgt sich hinter den zahlreichen Narben ein intelligenter Junge mit viel Humor und dem Herz am rechten Fleck.
Oft haben Filme, in denen Außenseiter mit Vorurteilen kämpfen müssen, das Problem der Schwarz-Weiß-Malerei. Ein aktuelles Beispiel wäre der chilenische Oscar-Anwärter Eine fantastische Frau. Die Methode, mit der das Transgender-Drama seine Protagonistin sympathisch macht, ist leider allzu platt. Denn fast alle anderen Figuren sind einfach nur bösartige Vollidioten ohne jeglichen Tiefgang. Im Vergleich dazu würde selbst ein Toastbrot mehr Mitgefühl erregen. Wunder zeigt, dass jede Geschichte immer mehrere Seiten hat und eröffnet eine Vielzahl interessanter Nebenstränge. Die Gemeinschaft um den Außenseiter ist hier nicht einfach nur böse. Sie alle tragen ihre eigenen Probleme mit sich und tun manchmal Dinge, auf die sie nicht stolz sind. Sie sind Individuen, die einfach nur ihren Platz in der Welt finden wollen und dabei eben hin und wieder falsche Entscheidungen treffen.
Es ist so herrlich erfrischend, wie Wunder auf den erhobenen Zeigefinger verzichtet. Anfangs fand ich die Entscheidung, die Geschichte aus den Perspektiven mehrerer unterschiedlicher Figuren zu erzählen, etwas befremdlich. Doch dann wurde mir klar, dass sich Wunder somit von anderen Genrevertretern abhebt. Eine Person, die wir zuvor nicht ausstehen konnten, wird plötzlich dadurch sympathisch, dass wir die Geschichte aus ihrer Sicht erleben. Ich betrat den Kinosaal in der Erwartung einer recht oberflächlichen und stereotypen Außenseiter-Geschichte. Was ich bekommen habe, ist ein magisches Kinoerlebnis, dass mich in der Seele tief berührte und mich Rotz und Wasser heulen ließ.
Ich bin mir gar nicht sicher, warum mich dieser Film emotional so dermaßen erwischt hat. Es mag am fantastischen Jacob Tremblay liegen, der trotz seines jungen Alters und der vernarbten Maske charismatischer wirkt als so einige gestandene Hollywood-Veteranen. Vielleicht waren es auch aufkeimende Frühlingsgefühle oder die Tatsache, dass es einfach mal gut tat, bei all dem Hass auf der Welt, auch mal wieder einen Film zu sehen, der für Versöhnung und Akzeptanz eintritt. Letztendlich glaube ich sogar einen Teil von mir selbst in Auggie wiedergefunden zu haben. Wie dem auch sei: Wunder ist ein cineastisches Manifest für die Menschlichkeit, ein knapp zweistündiger Tränenkatalysator für alle, die einfach mal wieder ein hoffnungsfrohes, ehrliches und emotional aufgeladenes Kinoerlebnis haben möchten.
Bilder: Wunder © Studiocanal Germany
Oscar-Chancen von Wunder:
Wunder ist nur in der Kategorie Bestes Make-up und beste Frisuren nominiert, wo er sich gegen Die dunkelste Stunde und Victoria & Abdul durchsetzen muss. Ich schätze den Film in dieser Kategorie zwar stärker ein als Victoria & Abdul, doch an Die dunkelste Stunde vorbeizukommen wird schwer. Die Maskenbildner beim Weltkriegsdrama sorgten für die überzeugende Verwandlung von Gary Oldman in Winston Churchill. Als sechsfach nominierter Film (unter anderem für den Hauptpreis) hat Die dunkelste Stunde generell einfach mehr Oscar-Präsenz. Einen Überraschungssieg für Wunder würde ich nicht ausschließen. Wundern würde es mich trotzdem.